Unschuldsvermutung für Opfer?

Die Unschuldsvermutung für Opfer, gelegentlich auch weniger allgemein als Unschuldsvermutung „für Frauen“ bezeichnet, wird aktuell im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen den Sänger von Rammstein, Till Lindemann, wieder vermehrt in den Medien erwähnt, so etwa bei der F.A.Z.

Was ist die Unschuldsvermutung für Opfer?

Unschuldsvermutung für Opfer. Was ist das überhaupt? Verbirgt sich dahinter ein Konzept? Gar ein sinnvolles? Welche Funktion soll sie haben?

Recherche im Internet: Schnell fällt auf, dass es kaum fachliche Beiträge zu dieser Art der Unschuldsvermutung gibt. Die Diskussion hierüber wird vor allem über Meinungsbeiträge in den Medien geführt. Weiter fällt auf, dass diese Meinungen meistens von Journalisten (überwiegend allerdings von Journalistinnen) ohne rechtliche Ausbildung, aber mit großer Empörung und selbst definierten Moralprinzipien vertreten werden.

Dabei muss einem die Verwendung dieses Begriffs und die Verbreitung der dahinter stehenden Auffassungen in den Medien Sorgen machen: Denn durch rhetorisch nicht ungeschickte Argumentation wird letztlich Stimmung gegen das über Jahrhunderte erkämpfte bürgerrechtliche Prinzip der Unschuldsvermutung gemacht.

An seine Stelle soll nach Meinung der Autorinnen offenbar eher eine von Meinungen oder besser noch von Haltungen getragene Sicht treten. Konkrete Vorwürfe gegen Mitmenschen sollen offenbar nicht mehr darauf überprüft werden, welche Beweise für welchen Sachverhalt sprechen. Vielmehr sollen Sachverhalte auf Grundlage eigener Vorurteile und Haltungen bewertet werden.

Das scheint der „guten Sache“ eher zu dienen als ein Prinzip, das letztlich schlicht ein möglichst sauberes Vorgehen bei der Überprüfung von Vorwürfen gegen einen anderen Menschen sicherstellen soll.

Kurz: Beweise sind out, gefühlsbasierte Meinung ist in.

(Nicht nur) Strafverteidiger und Strafverteidigerinnen haben damit ein Problem. Wir erleben täglich, wie schwer es immer wieder bereits mit der geltenden Unschuldsvermutung ist, unsere Mandantinnen und Mandanten gegenüber einer Justiz zu verteidigen. Denn der Justiz scheint das Interesse am einzelnen Fall und an der Erhebung und offenen Bewertung von Beweisen in jedem neuen Fall nach und nach abhanden zu kommen.

Stokowskis Unschuldsvermutung: Ja, nein, vielleicht?

Wie man sich vordergründig zur Unschuldsvermutung bekennt, sie zugleich aber als etwas Falsches darstellt, lässt sich etwa an einem Meinungsbeitrag von Margarete Stokowski vom 13.04.2021 bei SPIEGELONLINE mit dem Titel „Die Unschuldsvermutung gilt nicht nur für Männer“ illustrieren. Er hat zudem den Vorteil, frei im Netz verfügbar zu sein.

Frau Stokowski (hat Philosophie und Sozialwissenschaften studiert  – vom Fach) schreibt (Hervorhebungen jeweils von mir):

„»Unschuldsvermutung« ist ein Zauberwort, das alle Erzählungen, die außerhalb des Gerichtssaals stattfinden, zu Staub zerfallen lassen soll. Aber mit der Unschuldsvermutung ist es so eine Sache.

Denn die Unschuldsvermutung gilt auch für Frauen, die Männern Übergriffe vorwerfen. Man muss erst mal davon ausgehen, dass sie nicht lügen: Wer erklärt, dass eine Frau, die von Übergriffen spricht, lügt und das Ansehen dieser Person zerstören will, wirft der Frau mindestens üble Nachrede vor – und das wäre dann auch eine Straftat, die diese Frau begehen würde.“

https://www.spiegel.de/kultur/uebergriffiges-verhalten-die-unschuldsvermutung-gilt-nicht-nur-fuer-maenner-a-684aca36-d8a6-4e91-89f6-48ca2868022e

Gut, dass uns das mal endlich jemand erklärt hat!

Wenn eine Person einer anderen etwas vorwirft, darf man nicht automatisch glauben, dass sie lügt. Darauf sind die doofen, ach so rückwärtsgewandten Juristen natürlich in hundert Jahren nicht gekommen.

Wir merken uns also: Wenn eine Person einer anderen etwas vorwirft, sind beide als unschuldig anzusehen. Diesen Ansatz finde ich übrigens wirklich ganz gut.

Nur – und diese Frage lassen eigentlich alle der Autorinnen immer wieder unbeantwortet: Was folgt daraus? Wie entscheidet man auf Grundlage dieser Erkenntnis einen Fall? Denn die Strafrechtspraxis muss konkrete Fälle mit echten Menschen hier und jetzt lösen. Im Strafrecht mit regelmäßig harten Folgen, wenn man falsch liegt. Das ist etwas anderes als theoretische Erörterungen an der Uni im Literaturseminar zu führen. Oder eben eine gefühlige Meinung zu vertreten, ohne in irgendeiner Weise dabei Verantwortung übernehmen zu müssen.

Bahnbrechende Erkenntnisse, die keine sind

Das Ergebnis von Frau Stokowski wirkt vor diesem Hintergrund eher schlicht. Es klingt bei ihr so, als wäre das hinter der Unschuldsvermutung liegende Problem einfach gelöst. Nämlich damit, dass man dann der Person, die der anderen etwas vorwirft, einfach mal glauben darf (es klingt bei ihr aber eher wie „glauben muss“) – denn die ist ja unschuldig.

Aber unschuldig ist der andere Mensch laut Frau Stokowski doch auch? Gar nicht so einfach!

Vermutlich deswegen kommen bei Frau Stokowski dann aber doch Zweifel auf: Denn obwohl sie gerade noch die Vorzüge der Unschuldsvermutung festgehalten hat, schreibt sie dann (Hervorhebungen von mir):

Die Unschuldsvermutung ist ein rechtliches Prinzip, kein moralisches. Laut Europäischer Menschenrechtskonvention muss jeder einer Straftat Verdächtige so lange als unschuldig behandelt werden, bis rechtskräftig seine Schuld festgestellt wurde. Und nicht er muss seine Unschuld, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine Schuld beweisen.

Das bedeutet nicht, dass man jedem Menschen alles glauben muss. Es bedeutet aber, dass mehr Gewalt passiert als Gerichtsurteile bestätigen können und dass man dementsprechend natürlich Meinungen zu Fällen haben darf. Eine solche Meinung kann zum Beispiel sein: Ich neige dazu, Frauen zu glauben. Oder: Ich sehe die Auftritte oder Filme dieser Person inzwischen mit einem schlechten Gefühl. Oder: Ich wünsche mir, dass dieser Fall eines Tages aufgeklärt wird.“

https://www.spiegel.de/kultur/uebergriffiges-verhalten-die-unschuldsvermutung-gilt-nicht-nur-fuer-maenner-a-684aca36-d8a6-4e91-89f6-48ca2868022e

Ganz so weit her scheint es mit dem Glauben an die Unschuldsvermutung – für Beschuldigte, Anzeigende, wen auch immer – dann also doch nicht zu sein.

Oben wurde noch festgehalten, dass dieses Prinzip dazu führen müsste, dass man den Frauen glaubt (wenn auch spiegelbildlich formuliert: „ausgehen, dass sie nicht lügen“). Dann wird erst einmal auf die Moral – wohl von Frau Stokowski als in diesem Zusammenhang geeigneterer Maßstab angesehen – umgeschwenkt.

Schließlich kommt die Erkenntnis, dass man nur wegen der Unschuldsvermutung nicht „jedem Menschen alles glauben muss“. Das ist ja wirklich bahnbrechend. Auch darauf ist seit dem Mittelalter kein Jurist je gekommen, da bin ich mir ganz sicher.

Gefährliche Fehlvorstellungen von der Unschuldsvermutung

Hier macht sich bemerkbar, dass auch Frau Stokowski die Unschuldsvermutung und ihre Auswirkungen nicht verstanden hat. Und das ist leider bei allen von mir bislang zum Thema „doppelte Unschuldsvermutung“ gelesenen Beiträgen der Fall.

Zunächst ist Frau Stokowskis Erkenntnis überhaupt nichts Neues oder Weltbewegendes. Sie bedarf auch nicht des Umwegs über die Moral: Denn die Unschuldsvermutung bedeutete noch nie, dass „man jedem Menschen alles glauben muss“.

Ebenso wenig hat sie je bedeutet, wie es Frau Dürrholz (hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert – kennt sich aus) in der F.A.Z. suggeriert, „dass man keine Fragen stellen darf.“

Vielmehr werden unter der Geltung der Unschuldsvermutung seit jeher Personen befragt, Wohnungen durchsucht und sogar Leute eingesperrt, sog. „Untersuchungshaft“. Darüber könnte man auch mal reden, aber das ist ein anderes Thema.

Denn die Unschuldsvermutung verbietet keine Ermittlungen, eigentlich gebietet sie diese sogar:

Sie führt dazu, dass Beweise gegen die Person zu sammeln sind, der etwas vorgeworfen wird. Dass eben diese Person nicht ihrerseits beweisen muss, dass etwas NICHT geschehen ist (was oft auch schwierig ist, denn dafür das etwas nicht geschehen ist, gibt es ja eigentlich auch keine Beweise). Die Unschuldsvermutung mahnt zudem, stets daran zu denken, dass die Vorwürfe gegen die verfolgte Person eben auch falsch sein können. Nicht mehr – aber auch nicht weniger. Und bereits diese überschaubaren Anforderungen müssen in der Praxis vor der Justiz oft erst erkämpft werden.

Unschuldsvermutung: Wesentliches Menschensrechtsprinzip

Mitnichten handelt es sich bei der Unschuldsvermutung also um einen „Fetisch“, wie auf dem Internetportal „Belltower News“ der staatlich geförderten Amadeu Antonio Stiftung zu lesen ist.

Unter „Fetisch“ versteht man einen Gegenstand religiöser Verehrung, dem übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden. Wer etwas als „Fetisch“ bezeichnet meint damit also in der Regel vorwissenschaftlichen, nicht ganz ernst zu nehmenden Humbug.

Die Unschuldsvermutung verkörpert aber keinen Glauben an Magie, sie stellt eine Methodik dar. Eine Methodik, die sich über Jahrhunderte immer dann als besonders wichtig erwiesen hat, wenn sich die Gesellschaft oder einzelne Gruppen der Gesellschaft in (berechtigte oder unberechtigte) Erregung versetzten und in dieser Erregung – die gefühlte Schwere des Vorwurfs reichte aus – Mitmenschen ohne Beweise ganz wörtlich über die Klinge springen lassen wollten.

Unschuldsvermutung: Bedeutung gerade auch bei moralischer Empörung

Nicht zufällig taucht im Zusammenhang mit der Geschichte der Unschuldsvermutung daher immer wieder das Werk „cautio criminalis“ von Friedrich Spee auf.

Die Gesellschaft seiner Zeit hatte sich bereits stillschweigend damit abgefunden, dass Einzelne (Männer wie Frauen übrigens) durch den bloßen Vorwurf der „Hexerei“ mehr oder weniger rechtlos gestellt wurden, ohne echte Verteidigungsmöglichkeiten.

Das wurde von der breiten Gesellschaft zwar vielleicht nicht unbedingt befürwortet, aber dem wurde eben auch nicht widersprochen – nicht zuletzt, weil man allein durch ein Eintreten für die Betroffenen sehr schnell selbst unter einen entsprechenden Verdacht geraten konnte.

Daher wurde diese Praxis als etwas, das mit einem selbst irgendwie nichts zu tun hat und doch immer (zum Glück) nur andere betraf, geduldet.

Diese „Verfahren“ begannen nicht selten in kleinen Gemeinschaften, im Dorf, durch Vermutungen und Denunziationen, etwa gegenüber nicht stramm der Dorfmoral angepassten Menschen („hast Du schon gehört: Bei dem / der soll das und das passiert sein!“ – „Uihuihui, also wenn das stimmt. Schick vorsichtshalber lieber einen Boten zum Inquisitor und sammel schon mal Holz für den Scheiterhaufen!“).

Sie wurden dann nicht selten durch Verwaltungsbeamte vorangetrieben, die auf dem Rücken der Angeschuldigten ihre Karriere vorantreiben konnten.

Spee trat dieser Praxis entgegen. Er forderte letztlich schlicht ein rechtsstaatliches Verfahren ein.

Spätestens wenn nun also sogar von der traditionell menschenrechtsfreundlichen linken Seite behauptet wird, die Unschuldsvermutung sei ein „Fetisch“, muss man dann schon mal daran erinnern:

Die Menschheit hat äußerst schlechte Erfahrungen mit den Zeiten gemacht, in denen dieses Prinzip nicht galt. Daher wurde es für so wichtig gehalten, dass es in alle wesentlichen menschenrechtlichen Grundsatzregelungen aufgenommen wurde:

„Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“

„Everyone charged with a criminal offence shall have the right to be presumed innocent until proved guilty according to law.“

 Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK):

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

„Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“

Überraschung: „Doppelte Unschuldsvermutung“ gibt es auch schon immer!

Und, Vorsicht, Überraschung: Seit jeher wird die Unschuldsvermutung auch in beide Richtungen angewendet.

Kann etwa in einem Verfahren, das auf belastenden, letztlich zweifelhaften, aber eben auch nicht zweifelhaft falschen, Aussagen eines Zeugen beruht, der Beweis gegen den Beschuldigten nicht geführt werden, wird keineswegs automatisch der Zeuge z.B. wegen falscher Verdächtigung oder Ähnlichem verurteilt. Denn auch dort gilt eben dann wiederum die Unschuldsvermutung. Auch hier also absolut nichts Neues, was Frau Stokowski und Co. fordern.

Worum es eigentlich geht: Das Unbehagen mit der Unschuldsvermutung

Worum geht es denn dann eigentlich?

Das deutet Frau Stokowski am Ende ihres Textes an: Sie sagt irgendwie „ja“ zur Unschuldsvermutung, will aber deren Folgen nicht akzeptieren: Dass es im Leben Momente gibt, in denen sich die Behauptung eines Menschen genauso wenig wie ihr Gegenteil beweisen lässt.

Denn besser wäre es aus ihrer Sicht offenbar, dazu zu neigen, Frauen zu glauben. Oder wenigstens, dass man – trotz vermuteter Unschuld – ein „schlechtes Gefühl“ hätte, obwohl jemand als unschuldig anzusehen ist.

Frau Kanitz von „Belltower News“ ist noch deutlicher, sie fragt:

„Wie kommen wir zu einer Gesellschaft, die erst einmal Frauen glaubt, die von sexualisierter Gewalt berichten, statt zuerst Männern eine Unschuld zuzugestehen, obwohl sie diese auch nicht beweisen können?“

https://www.belltower.news/struktureller-sexismus-der-fetisch-der-unschuldsvermutung-150697/

Man ist versucht zu antworten: Hoffentlich kommen wir gar nicht zu einer Gesellschaft, in der Unschuld bewiesen werden muss. Auch nicht der vermeintlich guten Sache wegen.

Moral ist etwas anderes als Moralkommunikation

Auch die Berufung auf Moral von den entsprechenden Autorinnen greift bei genauer Betrachtung nicht. Mit Moral werden gemeinhin die Werte und Regeln bezeichnet, die in einer Gesellschaft allgemein als gut und richtig anerkannt sind.

Bei der Moral geht es also um ein Einverständnis breiter Kreise mit bestimmten Konventionen. Offen bleibt bei den sich gegen die Unschuldsvermutung wendenden Autorinnen insbesondere, welche allgemeine Anerkennung es gesamtgesellschaftlich dafür gibt, unbewiesene Vorgänge zur Grundlage von Sanktionen zu machen. Dass das innerhalb diverser (Internet-) Communities anerkannt ist, ist erschreckend, aber auch nicht ausreichend.

Das Kommunizieren mit dem Mittel der Moral oder eben „Moralkommunikation“ dagegen beschreibt eine kommunikative Praxis, mit der die einen Kommunikationsteilnehmer ihre (eigenen) Auffassungen als „gut“ und die von abweichenden Kommunikationsteilnehmern als „böse“ eingestuft wird.

Diese Praxis hat wenig Gutes hervorgebracht. Sie spaltet Gesellschaften und führt zu verhärteten Perspektiven, die keine differenzierte Diskussion mehr zulassen.

Das erscheint ebenso wenig erstrebenswert wie die Abschaffung der Unschuldsvermutung.

Vielleicht muss stattdessen gelernt werden, dass das menschliche Leben Unschärfen bereithält, die eben nicht binär nach dem Muster schwarz/weiß gelöst werden können und eben diese Erkenntnis dem Leben besonders gerecht wird. Dann sind eben beide freizusprechen.